Das Dorf der Freundschaft ist ein internationales Versöhnungsprojekt. Es wurde durch den ehemaligen US-Soldaten George Mizo initiiert. Es bietet Menschen, die unter den Spätfolgen des Vietnamkrieges leiden – geistig und körperlich behinderten Kindern und Jugendlichen sowie Älteren – Hilfe und Unterstützung.

 Albrecht und Lydia Gaiser mit ihrer Familie unterstützen das Dorf der Freundschaft schon seit ganz vielen Jahren und haben es in verschiedenen Zusammenhängen zum Thema gemacht, z.B. beim Badminton-Familiencup in Korntal und in der Korntaler Brot für die Weltgruppe. So freute es uns sehr, dass die beiden sich letzten Sommer mit ihren vier erwachsenen Kindern auf die Reise nach Vietnam machten und dabei das Dorf der Freundschaft persönlich kennenlernten. Albrechts Reisebericht war auch Predigttext im Gottesdienst in der Korntaler Kirchengemeinde am 14.10.2012. Wir bedanken uns - auch im Namen des Dorfs der Freundschaft- für diese langjährige engagierte Unterstützung unserer Arbeit in Vietnam!

 

Gottesdienst von Korntaler Brot für die Welt am 14.10.2012

mit Impressionen aus dem Dorf der Freundschaft in Hanoi/Vietnam und Impulsen zu Inklusion

von Albrecht Gaiser

Es ist schon ein besonderes Geschenk und Glück, dass wir als Familie zu sechst nach Vietnam reisen und das Dorf der Freundschaft in Hanoi besuchen durften. Das Dorf wird von Korntaler Brot für die Welt, vom Weltladen Korntal und von der Badmintonabteilung des TSV Korntal seit vielen Jahren unterstützt. Und da wir als Familie in allen drei Kontexten eingebunden sind, war es schon ein lange ersehnter Wunsch, das Dorf der Freundschaft in seiner Wirklichkeit vor Ort zu erleben.

George Mizo, der Initiator des Dorfes, hat hier in der Christuskirche vor 14 Jahren Einblick in sein Leben gegeben und seinen Gesinnungswandel vom US-Soldaten zum Friedensaktivisten auf eindrucksvolle Weise dargelegt. Für mich war es der Anlass, dieses Projekt zu fördern. 1999 hat er Sportlerinnen und Sportler in der Sporthalle Dank gesagt für ihre Hilfe. Vor 10 Jahren ist George, selbst schwer gezeichnet vom Dioxinhaltigen Agent Orange, verstorben. Aber seine Idee lebt weiter. Ich freue mich, dass seine Frau Rosi heute mit im Gottesdienst ist.

Am Sonntag den 5.August 2012 vor unserer Abreise nach Vietnam bezog sich Prädikantin Blaich im Gottesdienst auf den Psalm 139, 14: " Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke, und das erkennt meine Seele wohl ". Dieser Psalm beschäftigte mich auf unserer Reise nach Vietnam bezüglich der Akzeptanz von Menschen mit Behinderungen hinsichtlich ihrer Selbstwahrnehmung. Gleicht es nicht einer bitteren Provokation für einen Menschen, der z. B. seine körperliche Andersartigkeit, seine nichtvorhandenen Beine oder verkümmerten Muskeln und entstellten Gesichtszüge als wunderbares Geschenk empfinden soll? Welch große Bürde wurde ihm auferlegt!

Fällt es doch selbst Menschen, die im Bereich der Mitte der Gaußschen Normalverteilung liegen, bisweilen schwer, dem Herrn zu danken für ihre nicht immer konstante Befindlichkeit?

Können die Kinder im Dorf der Freundschaft sagen: Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin?

Über das vietnamesische Ethos ist in der Willkommensbroschüre der deutschen Botschaft in Hanoi folgendes zu lesen: "Jemandem Scham zu ersparen sei das Menschlichste formuliert Friedrich Nietzsche". Seinem Gegenüber nicht die Würde zu nehmen, sondern seine Position zu verbessern, indem man ihm Gesicht gibt (ebenda!), das klingt respektvoll, würdigend.

Und hier sind wir nah an den Werten, die der Begriff "Inklusion" beinhaltet: gegenseitige Wertschätzung, jeden willkommen heißen, Auflösung des Zweigruppendenkens, Behinderte versus Nichtbehinderte. Ein sensibler und respektierender Sprachgebrauch wie er z. B. von der Bewegung "peoples first" impliziert ist. Es ist ein Unterschied, ob ich vom behinderten Menschen spreche und eines seiner vielen Charakteristika in den Vordergrund stelle oder ob ich sage ein Mensch mit Behinderung, als Adjektiv hintangestellt, als eine Eigenschaft von vielen anderen positiven! Sprache als Ausdruck unserer Haltung!

Bedingungslose Wertschätzung, Liebe und Akzeptanz des individuellen Soseins auch von Menschen mit Agent Orange-Schädigungen - was heißt das für Hanoi, Korntal, für mich? Aber zunächst zu unserem Besuch dort:

Meine Aufzeichnungen vom Mittwoch, 09.08.2012

Besuch des DdF mit dem Taxi über z.T. holprige Straßen, 8 bis 9 km in einer 3/4 Stunde!! Das Dorf ist nicht in aller Munde, der Fahrer muss immer wieder nach dem Zielpunkt fragen, so dauert es, bis wir dort ankommen!

Direktor Hung mit Sekretärin Ms Ha empfangen uns im festlichen Konferenzsaal, majestätisch, würdevoll mit höchstem gegenseitigem Respekt: Dass wir als Familie unterwegs sind verblüfft und erfreut Herrn Hung außerordentlich!

Wir überreichen die Geschenke von Rosi Höhn-Mizo und das Mitgebrachte von uns: Medikamente, Farben, Spielmaterialien für Frühförderung und Unterricht. Den Klingelball wird Hoa mit dem Lormalphabet in die benachbarte Blindenschule neben der deutschen Botschaft bringen.

Herr Hung hat an der Ausbildung unserer Kinder großes Interesse und er drückt seine Begeisterung über diese Ausbildungen aus!

Wir werden zu einem Rundgang durch die Klassenzimmer, Werkstätten, Küche und Kläranlage eingeladen.

120 Kinder werden im Dorf unterrichtet und beruflich ausgebildet. Sie wohnen in sechs Häusern mit ihren Hausmüttern. 60 Veteranen sind ebenfalls im DdF untergebracht. Eine Papierblumenwerkstatt schauen wir an und erhalten ein Gastgeschenk, herrliche große Lotusblumen, ein Seidenbild bekommen wir in der nächsten Werkstatt überreicht. Sie können die Originale hier bewundern! Des Weiteren besichtigen wir die Computer-Klasse (Office- Textverarbeitung!) und die Schneiderei. Neue Werkstattgebäude werden derzeit gebaut. Ziel ist, dass die jungen Menschen beruflich ausgebildet in ihre Heimatgemeinden zurückkehren können und dort Arbeit finden.

Ein Therapieraum für Krankengymnastik und Bewegungsübungen wird uns ebenfalls gezeigt. Dort gibt es eine beträchtliche Zahl von Therapiematerialen bis hin zum kleinen Kugelbad! Ein gehörloser Junge aus dem DdF besucht die nahegelegene Regelschule, da er dem Unterricht dort folgen kann. Erste Schritte zum inklusiven Unterricht! Die Forderung der UN-Menschrechtskonvention nach inklusiven Angeboten steht hier in den Anfängen. Ca .100 000 Kinder mit Missbildungen auf Grund von Agent Orange sollen derzeit in Vietnam leben. 120 davon werden im DdF beschult. Was ist mit den restlichen 99 880? Laut UN-Menschenrechtskonvention sind weltweit 98 % der Kinder mit Behinderungen ohne Schulplatz! Das könnte also auch auf Vietnam zutreffen. Umso wichtiger, dass es das Dorf der Freundschaft gibt und wir es von Korntal aus weiter unterstützen!

Ein kleiner subjektiver Eindruck vom Land:

Insgesamt trafen wir in Vietnam auf wenig Menschen, die mit Betteln ihren Lebensunterhalt verdienen: Nur zwei Beispiele habe ich in Erinnerung: Ein Mensch, der auf den Händen geht, weil seine Beine so kurz und verquer zum Bauch gewachsen sind, bittet um eine kleine Gabe. Einen Menschen mit weißem Stock habe ich zweimal an der gleichen Ampel im Straßenverkehr entdeckt. Dort hat er wohl seinen Arbeitsplatz und wartet auf großzügige Spender!

Bei den späteren Fahrten zu den Sehenswürdigkeiten im Lande machen wir öfters Rast an großen Verkaufszentren, denen eine saubere Toilette angeschlossen ist. In den Eingangsbereichen dieser Zentren sind zuvorderst Menschen mit Behinderungen an ihren Arbeitsplätzen zu sehen. Hoa von der deutschen Botschaft meinte, dass dies aus verkaufspsychologischen Gründen so konzipiert sei. Zumindest aber sind dadurch einige Arbeitsplätze eingerichtet. Auch im Kriegsmuseum in Saigon sind Menschen mit Behinderungen beschäftigt, die einfachste Bastelarbeiten zum Verkauf anbieten.

Jedoch zeigt die Ausbildung der jungen Menschen im DdF deutlich höhere Qualitäten und konzeptionelle Ansätze. Wenn sie Bilder über das Dorf der Freundschaft anschauen wollen, so gibt es bei youtube ein aktuelles Video vom 18.9.2012 vom Besuch des Wirtschaftministers Rösler und natürlich auch auf der Homepage des Dorfes der Freundschaft!

Herr Hung, der Direktor des Dorfes lädt uns zum Abschluss unseres Besuches zum gemeinsamen Mittagessen ein. Eine herzliche Aufnahme haben wir erfahren dürfen, glückliche Gesichter junger Menschen trotz prekärer Lebenslagen wahrnehmen können. und bis heute beschäftigen mich die gewonnenen Eindrücke:

Was mag bei den Müttern der von Agent Orange geschädigten Kinder vorgehen, was in den jungen Menschen selbst? Wenn die Hebamme die Mutter bei der Geburt eines Kindes mit Behinderung ermuntert, dieses Kind als göttliches Geschenk zu sehen, so wird diese Betrachtungsweise für die meisten Mütter, und auch Väter, eine lebenslange Herausforderung, ein lebenslanger Prozess sein. Das mag bei einem Säugling mit Trisomie 21, Down Syndrom, eher gelingen, das dem kleinkindlichen Schema entspricht und mit seinem heiteren Gemüt die Trübsal der Eltern vergessen und Freude aufkommen lässt. Wie ist es aber bei der Geburt eines Kindes mit offensichtlichen, extremen körperlichen Missbildungen, zusätzlich eventuellen Sinnesbehinderungen oder kognitiven Einschränkungen? Sicherlich fällt es hierbei deutlich schwerer, dieses Kind nicht als göttliche Strafe, was ja näher liegen würde, sondern als Geschenk anzunehmen! Auf Englisch heißt Gottesgeschenk "godgift" und welche Doppeldeutigkeit kommt uns Deutschsprachigen bei „godgift“ in den Sinn? Hat Gott hier Gift ins Spiel gebracht und damit nichtsahnende Mütter beschenkt oder bestraft? Oder waren hier gottlose Menschen am Werke? Konnte Gott es zulassen, dass Menschen dieses Gift produzieren, übrigens auch unter deutscher Beteiligung von Boehringer in Ingelheim, und dieses Gift in einem Umfang von 80 Millionen Litern auf ein Land sprühen? Löst dann die Geburt eines derart beeinträchtigten Menschen bei der Mutter, den Eltern, nicht Wut und Zorn aus auf die Verursacher? Wie kann es diesen Müttern/Eltern gelingen, ihr Kind als Geschenk anzunehmen? Was heißt das für die Beziehung von Frau und Mann, wenn die Mutter das Kind als Geschenk an den Vater gedacht hat? Wer will schon ein beschädigtes Geschenk überreichen und wer kann es mit Freude annehmen?

Übrigens sehen viele muslimische Eltern von Kindern mit Behinderungen diese Situation als besondere Aufgabe, die ihnen Allah zutraut!

Doch zurück zu den Kindern im Dorf der Freundschaft: die Vermutung liegt nahe, dass George Mizo sehr wohl um die nicht nur körperlichen sondern auch seelischen Verletzungen vieler vietnamesischer Menschen wusste. Das hat ihm selbst nachts den Schlaf geraubt. Aber es hat ihn auch bewogen, als Akt der Sühne, als Anerkennung der eigenen Schuld, kleine Schritte der Wiedergutmachung zu initiieren und ein Leben in Würde zu ermöglichen, gerade für die Kinder, die nun schon in der 3. Generation so gehandicapt sind. Durch die Schul- und Ausbildungsmöglichkeiten, medizinische und therapeutische Betreuungen erfahren sie etwas Linderung ihrer Situation, die der Eltern und die der Kinder. Ein bisschen Heimat braucht der Mensch, ich zitiere Herrn Dr. Wiedenroth. Und dieses Bisschen finden diese jungen Menschen im Dorf der Freundschaft.

Aber Vietnam hat noch einen langen Weg vor sich, allen Menschen ein Leben in Würde in ihrem originären Lebensumfeld einzuräumen.

In dem Buch "Heimat ist ein fremdes Land" beschreibt ein als Kind getroffenes Minenopfer, querschnittsgelähmt, seine Erfahrungen in Vietnam. Er hat in Deutschland medizinische Betreuung und Hilfsmittel erhalten und ist in seine Heimat nach Saigon zurückgekehrt. Als Uhrmacher mit einer kleinen Werkstatt bestreitet er seinen Lebensunterhalt. Aber er fühlt sich in seiner Heimat als Mensch mit Behinderung nicht anerkannt!

Kann das Dorf der Freundschaft dazu beitragen, dass Menschen in Gleichwürdigkeit in allen Dimensionen von Heterogenität zusammen leben? Jesper Juul als dänischer Familientherapeut hat den Begriff "Gleichwürdigkeit" geprägt und er kommt meines Erachtens dem christlichen Ethos der bedingungslosen Nächstenliebe sehr nahe. An dieser Perspektive arbeiten inklusive Schulentwicklungskräfte weltweit, jeden Menschen willkommen heißen unabhängig von seiner Individualität! In Hanoi, in Baden-Württemberg, in Korntal, in der Christuskirche, ich in mir!

Ein bisschen Heimat hat der Mensch, wo seine Wiege steht, seine Eltern sind, seine Gemeinde offene Strukturen aufbaut, ihn in allen Dimensionen von Heterogenität willkommen heißt in Kita, Schule, Gemeinde, Kinderkirche, Konfirmandenunterricht, Chor, Sport!

Gott schließt niemand aus, dieser kleine Satz kann als Definition von Inklusion verstanden werden. Und Inklusion ist wie der Nordstern am Himmel: wenn wir den Himmel erden, kleine Inseln zum inklusiven Andocken entwickeln, kommen wir der Gleichwürdigkeit näher! Das Dorf der Freundschaft ist ein wichtiger Anfang.

Auf dass eine jede, ein jeder sagen könne:

Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke, und das erkennt meine Seele wohl ".

 

Albrecht Gaiser Korntal, im Oktober 2012